Sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch in Therapie und Beratung
Merkmale und Tatsachen
Formen von Missbrauch in Therapien und Beratungen sind u.a. emotionaler Missbrauch, (materielle) Ausbeutung und sexueller Missbrauch. Sexueller Missbrauch in der Therapie ist jegliches Verhalten der*des Therapeut*in, das der Befriedigung der eigenen sexuellen Interessen und Wünsche dient. Dazu gehören z.B. auch schon anzügliche Bemerkungen. Auch das Eingehen einer sexuellen Beziehung mit einer Klientin ist immer Missbrauch.
Studien zum Thema zeigen im Durchschnitt, dass etwa 10% der Therapeut*innen zumindest einmal in ihrer Berufslaufbahn sexuelle Kontakte mit Klient*innen haben. Schätzungen der Dunkelziffer liegen bei 20% bis 30%. Sexueller Missbrauch in Therapien wird mehrheitlich von gut ausgebildeten, erfahrenen männlichen Therapeuten ausgeübt. Betroffen davon sind in großer Mehrzahl Mädchen und Frauen.
Eine gute therapeutische Beziehung ist ein Arbeitsbündnis. Therapeut*innen verpflichten sich, Hilfesuchende mit ihrer Fachkenntnis und Kompetenz darin zu unterstützen, ihre Probleme zu bewältigen und ihre Lebensqualität zu verbessern.
Sie verpflichten sich darüber hinaus, materielle Interessen, die über ihre Bezahlung hinausgehen sowie eigene Wünsche und Bedürfnisse in der Therapie zurückzustellen, die Würde ihrer Klient*innen zu achten und ihre Gesundheit zu schützen. Dasselbe gilt für Beratungssituationen.
Ein Missbrauch in der Therapie oder in der Beratung bedeutet eine Verletzung dieser Grundsätze seitens der Therapeut*innen oder Berater*innen und ein Ausnutzen des Machtungleichgewichtes in der therapeutischen Beziehung.
Eine Klientin sucht die professionelle Hilfe eines*einer Therapeut*in, da es in ihrem Leben Probleme gibt, die sie klären und lösen möchte. Hat sie das für eine erfolgreiche Therapie notwendige Vertrauen gefasst, teilt sie ihre innersten Gefühle, Gedanken und Erlebnisse mit und ist bereit, sich schwach, abhängig und verwundbar zu zeigen. Sie setzt Schutzmechanismen außer Kraft, und es entsteht ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis, in dem die Klientin manipulierbar und für ihr Handeln in der Therapie nur bedingt verantwortlich ist.
In dieser Situation sind verschiedene Formen des Machtmissbrauches möglich, die häufig gleichzeitig stattfinden. Allen gemeinsam ist, dass die Abhängigkeit der Klientin durch den*die Therapeut*in benutzt wird, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen oder in den Vordergrund zu stellen.
Dadurch werden die Therapieziele und Entwicklungsprozesse der Klientin gefährdet und verraten.
Emotionaler Missbrauch
Unter emotionalem Missbrauch werden Einstellungen und Handlungen des*der Therapeut*in verstanden, die zum Ziel haben, eine Klientin für die eigene Selbstbestätigung und zur eigenen Aufwertung zu benutzen. Die Klientin gerät in die Rolle, den*die Therapeut*in bewundern zu müssen, ihm*ihr gefallen und sein*ihr Wohlwollen erfahren zu müssen, um zum vermeintlichen Therapieerfolg beizutragen. Tatsächlich geht es aber bei dieser subtilen Form des Machtmissbrauches nicht um die Klientin und ihre Entwicklung, sondern vorrangig um die Bedürfnisse des*der Therapeut*in.
(Materielle) Ausbeutung
Leichter zu erkennen ist die (materielle) Ausbeutung in der Therapie. Dabei bedient sich ein*e Therapeut*in der Abhängigkeit einer Klientin bzw. ihrer Sympathie und Bindungswünsche, indem ihre Fähigkeiten, Kontakte, materiellen Möglichkeiten usw. im Rahmen der therapeutischen Beziehung gewinnbringend benutzt werden. Klientinnen werden z.B. als Bürohilfen, Putzfrauen oder Informantinnen eingesetzt.
Sexueller Missbrauch
Sexueller Missbrauch liegt bereits dann vor, wenn Handlungen und Äußerungen ein erotisches Interesse bei der Klientin erzeugen sollen und die Befriedigung der sexuellen Wünsche des*der Therapeut*in zum Ziel haben. Formen sexueller Übergriffe sind beispielsweise anzügliche Bemerkungen, eine sexuell ausgerichtete Körpersprache, Körperkontakte, die auf sexuelle Handlungen abzielen, sexuelle Belästigung und Nötigung.
Auch das Eingehen einer sexuellen Beziehung mit einer Klientin ist sexueller Missbrauch, selbst wenn diese in sexuelle Kontakte einwilligt oder sich diese wünscht. Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Klientin sich in ihre*n Therapeut*in verliebt. Sie hat das Recht, in der Therapie ihre Gefühle und (sexuellen) Wünsche frei zu äußern, ohne sich zu kontrollieren. Was die Klientin nicht wissen kann – der*die Therapeut*in aber wissen muss – ist, dass sie dabei unter Umständen unbewältigte Konflikte und Gefühle, einschließlich des Gefühls des Verliebtseins, aus vorangegangenen Erfahrungen auf ihn*sie überträgt.
Im Gegensatz zu ihren Klient*innen wissen Therapeut*innen, welche Folgen sexuelle Kontakte in der Therapie haben können. Therapeut*innen, die diesem Wissen zuwider handeln, leisten keine professionelle Hilfe, sondern üben Gewalt aus.
Anzeichen für Machtmissbrauch
Für Betroffene ist es häufig schwer, einen sich anbahnenden Missbrauch zu erkennen. Oft handelt es sich um einen schleichenden Prozess.
Nicht selten reden sich Betroffene ein, dass Sorgen, Zweifel oder Gefühle der Verwirrung über das Geschehen nur wieder Symptome dessen sind, was sie in die Therapie geführt hat. Oder dies wird ihnen gezielt eingeredet.
Ein erstes Anzeichen für eine Grenzauflösung in der Therapie kann zum Beispiel ein „familiäres“ Verhalten der*des Therapeut*in sein (z.B. Abhalten von Therapiestunden im eigenen Wohnzimmer, Vorschläge, sich privat zu treffen, private Besuche und Geschenke). Andere mögliche Anzeichen sind das Abschließen des Behandlungszimmers während der Therapiesitzungen oder eine bevorzugte Behandlung wie Zeitüberziehungen, kostenlose Extrasitzungen, Kostenermäßigungen und -erlass. Auf eine Grenzauflösung können auch vermehrte Komplimente, Bemerkungen über Kleidung, Figur und Aussehen oder der Gebrauch von Kosenamen hindeuten – auch wenn dies scheinbar scherzhaft gemeint ist. Ein Anzeichen kann auch das Einbringen persönlicher Probleme (z.B. in der Ehe/Beziehung) oder eigener sexueller Erfahrungen/Wünsche durch den*die Therapeut*in sein, oder erste „zufällige“ Berührungen. Dabei gilt: In Therapien können natürlich Situationen entstehen, die Berührungen erfordern (etwa Berührungen bei körpertherapeutischen Behandlungen oder ein tröstendes In-den-Arm-Nehmen) – nicht jede Berührung deutet auf einen Missbrauch hin. Entscheidend ist das Motiv des*der Therapeut*in.
Zunehmende Grenzauflösungen bzw. ein „verdeckter“ Missbrauch können sich in einer Steigerung verbaler Übergriffe (z.B. Ausfragen nach sexuellen Phantasien, sexualisierte, auf den*die Therapeut*in ausgerichtete Deutung von Träumen) oder einer Zunahme nonverbaler Übergriffe (z.B. zunehmende Aufhebung räumlicher Distanz in den Therapiesitzungen, sexualisierte Körpersprache usw.) ausdrücken. Sie können sich auch in Liebeserklärungen zeigen oder in Gesprächen über mögliche gemeinsame sexuelle Kontakte und Schwierigkeiten, die damit verbunden sein könnten, oder gar in Erklärungen über die vermeintliche therapeutische Wirksamkeit sexueller Kontakte in der Therapie.
Grundsätzlich können Zweifel und Verwirrungen über das therapeutische Geschehen normale Reaktionen auf den Therapieverlauf sein. Stehen sie aber im Zusammenhang mit der Wahrnehmung, dass der*die Therapeut*in eigene (sexuelle) Interessen verfolgt und lassen sich diese Zweifel in der Therapie nicht ansprechen oder führt ein solches Gespräch nicht zur Klärung, dann ist Vorsicht geboten.