Internationaler Besuch aus Mexiko im bff

Am 19. Juni 2023 hatte der bff die Ehre, Besuch von CEDEHM (Centro de Derechos Humanos de las Mujeres), einer Menschenrechtsorganisation aus Chihuahua (Mexiko) zu erhalten. In einem fruchtbaren Gespräch tauschten wir uns über die Arbeit und die Herausforderungen im Bereich der Menschenrechte für Frauen aus. Aus diesem inspirierenden Treffen entstand ein erkenntnisreiches Interview, das einen Einblick in die wertvolle Arbeit von CEDEHM gewährt.

E. Laura Rios: Im Bundesstaat Chihuahua sind staatliche Institutionen kaum präsent, wenn es um die Wahrung der Menschenrechte geht. In dieser Situation kümmern sich zivile NGOs wie das CEDEHM um die Anliegen, die von diesen Einrichtungen ignoriert werden. Welche Programme oder Unterstützungsmaßnahmen bietet das CEDEHM konkret an, um auf die verschiedenen sozialen Fragen zu reagieren?

CEDEHM: Aufgrund der hohen Straflosigkeit in Mexiko bleiben viele Fälle ungeklärt. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Von 100 Fällen wurden nur 10% offiziell gemeldet, und von diesen 10% wurde lediglich 1% aufgeklärt. In Anbetracht dessen, setzen wir uns beim CEDEHM dafür ein, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu stärken, und dafür haben wir vier Programme entwickelt, die sich aus den vorliegenden sozialen Fragen ergeben:

  • Geschlechtsspezifische Gewalt: In unseren Beratungsgesprächen ermutigen wir gewaltbetroffenen Frauen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, basierend auf dem, was sie für richtig halten, anstatt ihnen Vorgaben zu machen.
  • Familien und Angehörige von verschwundenen Personen: Wir begleiten 800 Personen, deren Angehörige als verschwunden gelten. Einige Fälle dauern bereits seit 10 Jahren an, und die Eltern wissen immer noch nicht, wo ihre Kinder sind. Die Angehörigen stammen hauptsächlich aus Chihuahua, aber einige Fälle betreffen auch Personen aus anderen Bundesstaaten Mexikos. Die staatlichen Institutionen haben unsere Klient*innen vernachlässigt, indem sie ihnen nicht geglaubt und nicht zugehört haben.
  • Gefährdete Menschenrechtsaktivist*innen: Derzeit begleiten wir über 80 Personen, vor allem aus Chihuahua, die als Menschenrechtsaktivist*innen gefährdet sind. Da die Behörden in Mexiko ihnen nicht ausreichend Schutz bieten, sind wir gezwungen, auf internationaler Ebene um Unterstützung zu bitten. Die Interamerikanische Kommission hat unseren Klient*innen beispielsweise Schutzmaßnahmen gewährt.
  • Unterstützung von vertriebenen Personen: Wir begleiten etwa 120 Fälle pro Jahr von Menschen, die aufgrund von Gewalt ihre Gemeinden verlassen mussten und keinen Ausweis besitzen. Die Behörden erkennen sie nicht als Opfer an und bieten keine Unterstützung, da sie quasi "unsichtbar" sind.

Wir helfen diesen Menschen nicht nur rechtlich, sondern bieten auch psychosoziale Unterstützung, um sie emotional zu stärken. Zudem vermitteln wir ihnen das nötige Wissen, um ihre Rechte bei den Behörden einzufordern, anstatt sie einfach zur Polizei zu schicken. Die Herausforderungen entstehen, weil die Behörden unsere Klient*innen nicht unterstützen.

 

E. Laura Rios: Wie viele Menschen wurden bisher in Mexiko als vermisst gemeldet?

CEDEHM: In den Aufzeichnungen für Chihuahua werden 3.500 Personen aufgeführt, das sind aber nur die offiziellen Zahlen. Das Gleiche gilt für ganz Mexiko, wo die Statistik 112.000 Fälle zählt. Wir arbeiten derzeit mit 800 Angehörigen zu 430 Fällen. Besonders hervorzuheben ist, dass vor allem Frauen, insbesondere Mütter, nach ihren verschwundenen Angehörigen suchen. Es ist wichtig zu bedenken, dass diese Zahlen sogar höher sind als in einigen anderen lateinamerikanischen Ländern, die von Diktaturen regiert werden. Es gibt auch organisatorische Probleme, da diese Zahlen zwei Arten von Fällen umfassen: zum einen Menschen, die von den Behörden, der Polizei, dem Militär usw. verschwunden sind, und zum anderen Menschen, die absichtlich verschwunden sind, um ihre Identität zu schützen.

 

E. Laura Rios: In einem der Videos des CEDEHM weisen die Gründungsfrauen darauf hin, dass die Gewalt an Frauen bzw. die Femizide in den letzten 30 Jahren erheblich gestiegen ist. Welche Art von Gewalt erleiden Frauen und Disidencias[1] in Chihuahua üblicherweise, und wie unterstützt und verteidigt das CEDEHM diejenigen, die vom Staat und seinen Institutionen vernachlässigt werden?

CEDEHM: Es gibt verschiedene Arten von Gewalt, denen Frauen ausgesetzt sind. Auf Bundesebene zeigen die Zahlen, dass in Mexiko jeden Tag durchschnittlich 10 Frauen ermordet werden. Viele Femizide geschehen, weil Frauen, die über häusliche Gewalt sprechen, nicht ernst genommen werden. Dadurch zögern manche Frauen, häusliche Gewalt bei der Polizei anzuzeigen, was tragischerweise oft zu tödlichen Folgen führt.

Zusätzlich zu der Unterstützung der Betroffen versuchen wir eine geschlechtsspezifische Perspektive in Gerichtsprozessen einzubringen und somit das Rechtssystem zu verbessern. Es ist ein großes Problem, dass noch immer nicht alle Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt als Begriff institutionalisiert sind. Trotz unserer Bemühungen innerhalb des Rechtssystems sehen wir keine ausreichenden Veränderungen im Umgang der Behörden mit diesen Fällen. Deshalb suchen wir internationale Hilfe, um das Bewusstsein für die Situation in Mexiko zu erhöhen. Wir arbeiten mit der Interamerikanischen Kommission und dem Interamerikanischen Gerichtshof zusammen.

In Deutschland haben wir Treffen mit der Menschenrechtskommission (Menschenrechtsausschuss des Bundestages) und der Freundschaftsgruppe (Bündnis von Abgeordneten des mexikanischen und deutschen Parlaments) geplant.

Zudem gibt es die periodische universelle Überprüfung vor dem Menschenrechtsrat der UN in Genf. Dort wird die Menschenrechtslage weltweit beleuchtet, und Länder werden zu ihren spezifischen Menschenrechtsproblemen befragt. Die deutsche Gruppe arbeitet mit Mexiko zusammen, indem sie relevante Fragen stellt und Empfehlungen ausspricht, um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken.

 

E. Laura Rios: Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft für CEDEHM? Welche öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen führen Sie durch? An wen richten sich diese Veranstaltungen und was sind die Ziele, die damit verfolgt werden?

CEDEHM: Wir bieten nicht nur Unterstützung für Betroffene an, sondern haben auch ein spezielles Schulungsprogramm für öffentliche Bedienstete entwickelt, die mit Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt zu tun haben. Unsere verschiedenen Workshops zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt sollen sowohl Behörden als auch Opfer einbinden, damit die Betroffenen die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen und ihr Wissen zu teilen. Obwohl diese Perspektiven beispielsweise auch für Mitarbeiter*innen von Unternehmen sehr wertvoll sein können, buchen leider nicht viele Unternehmen unsere Schulungen. Zusätzlich bieten wir spezielle Workshops für Frauen an, deren Partner verschwunden sind. In diesen Workshops erlernen die Teilnehmerinnen neue Fähigkeiten, um ihre Familien zu versorgen, während sie gleichzeitig nach ihren vermissten Angehörigen suchen. Diese Frauen befinden sich oft in schwierigen wirtschaftlichen Situationen, da der verschwundene Partner zuvor die Familie finanziell unterstützt hat. Die Idee für diese Workshops entstand aufgrund von Anfragen unserer Klient*innen, die sich in solchen Situationen befinden.

 

E. Laura Rios: Was sind die langfristigen Ziele des CEDEHM bei der Förderung der Menschenrechte von Frauen? Gibt es bestimmte Projekte oder Initiativen, auf die Sie sich in Zukunft konzentrieren wollen?

CEDEHM: Nicht nur die Regierung, sondern auch die Institutionen sind unfähig. Wir möchten ein gewisses Maß an Vernetzung und Ausbildung in diesen institutionellen Bereichen erreichen.

Für diese Reise haben wir uns in drei Gruppen aufgeteilt; eine fuhr nach Paris, wir, die zweite nach Deutschland und die letzte nach Genf. Der Hauptzweck dieser Reise ist der Erfahrungsaustausch, um Neuerungen einzuführen und nach bewährten Praktiken zu suchen. Nach dieser Reise wollen wir uns damit befassen, welche Erfahrungen für unsere künftige Arbeit hilfreich sein könnten. Dabei wird unser übergeordnetes Ziel immer der Beitrag zum Recht der Betroffenen auf Zugang zur Justiz, Gerechtigkeit und zur Wahrheit bleiben!

 

E. Laura Rios: Gibt es abschließend etwas, das Sie der internationalen Gemeinschaft mitteilen möchten, um auf die Situation der Frauenrechte in Ihrer Region aufmerksam zu machen oder zum Handeln aufzurufen?

CEDEHM: Wir bitten die internationale Gemeinschaft, auf die Geschehnisse in Mexiko zu achten. Obwohl es sich um ein demokratisches Land handelt, erhalten all diese Organisationen wie CEDEHM immer weniger Unterstützung von der Regierung. Unabhängige Medien wären dringend notwendig. Wir brauchen die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft, damit der Druck verschiedener Institutionen (z. B. des Europarats) auf die mexikanischen Behörden zunimmt. Die Situation verschlimmert sich, und es gibt nicht genügend Kapazitäten, um sie zu bewältigen.

 

E. Laura Rios: Herzlichen Dank für das Interview. Wir wünschen CEDEHM viel Erfolg!  


[1] Das Wort wird in einigen Teilen Lateinamerikas für verschiedene Identitäten, soziokulturelle Praktiken und soziale oder politische Bewegungen verwendet, die unter anderem Heterosexualität als hegemoniale soziale und wirtschaftliche Norm in Frage stellen.

 

Das Interviewgespräch wurde von Edith Laura Rios (bff-Mitarbeiterin) auf Spanisch durchgeführt und von Lea Springer (bff-Praktikantin) ins Deutsche übersetzt.

Das Interview kann hier heruntergeladen werden: