Existierende Versorgungslücken
Es gibt in Deutschland keine flächendeckenden Angebote der medizinischen und psychosozialen Versorgung nach sexualisierter oder schwerer körperlicher Gewalt. Immer wieder passiert es, dass Betroffene in Kliniken z.B. nicht die notwendige medizinische Versorgung erhalten oder sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Es fehlt vielerorts an leicht und rund um die Uhr erreichbaren Angeboten zur medizinischen Versorung und bei Wunsch auch anonymen Spurensicherung.
Betroffene müssen aktuell oft mehrere Stellen anlaufen: z.B. eine rechtsmedizinische Untersuchungsstelle für die Spurensicherung, eine gynäkologische Praxis für die medizinische Versorgung, eine Apotheke für die Notfallkontrazeption und eine Fachberatungsstelle für die psychosoziale Versorgung.
Ein weiteres Schwierigkeit ist, dass die Situation in den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich ist: teilweise gibt es landesweite Regelungen, teilweise gute Modellregionen in Bundesländern, teilweise dezentrale Anlaufstellen und Kooperation mit Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzt*innen. Art und Qualität der Versorgung sind von Klinik zu Klinik und bei Ärzt*innen verschieden. Für Betroffene ist es oft Zufall, in welchem Umfang und wie gut sie versorgt werden. Oder es hängt davon ab, wo sie leben. Auch fehlen vielerorts Versorgungsangebote, die rund um die Uhr erreichbar sind.
Problematisch ist auch, dass vergewaltigte Frauen häufig Notfallkontrazeptiva oder Medikamente zur HIV-Prävention selbst bezahlen müssen. Und dass Krankenhäuser für die Behandlung Betroffener von sexualisierter oder körperlicher Gewalt nur eine Notfallpauschale abrechnen können, die die realen Kosten der Behandlung nicht abdeckt. Das führt dazu, dass sie die Betroffenen entweder abweisen, zu einer Anzeige drängen, an niedergelassene Ärzt*innen weiterverweisen oder selbst anteilig Kosten tragen müssen.
Nebeneinander von medizinischer, rechtsmedizinischer und psychosozialer Versorgung fehlt
Die neue Regelung im SGB V berücksichtigt ausschließlich die vertrauliche Spurensicherung. Die wichtige traumasensible, medizinische Versorgung nach sexualisierter und körperlicher Gewalt ist im Gesetz nicht aufgenommen - in der Annahme, dass diese in Deutschland überall ausreichend gewährleistet ist. Das ist nicht der Fall! Zudem muss beachtet werden, dass nicht alle Betroffenen die gleichen Bedürfnisse haben. Es kann sein, dass eine Sprachmittlung notwendig ist oder die Bedarfe von Personen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen sichergestellt werden müssen. Außerdem muss es Möglichkeiten für eine Behandlung von Betroffenen ohne Aufenthaltstitel oder ohne Krankenversicherung geben.
Die medizinische Versorgung ist Voraussetzung für die Gesundung von Betroffenen und für eine sachdienliche Befunddokumentation und Spurensicherung.
Strukturelle Probleme
Strukturelle Probleme, wie die mangelnde finanzielle und personelle Ausstattung von Krankenhäusern, sind seit der Pandemie verstärkt öffentlich thematisiert worden. Es fehlt jedoch ein Fokus auf die Frauengesundheit. Die schlechte Ausstattung wirkt sich direkt auf die von Gewalt betroffenen Personen aus. Eine zeitnahe medizinische Erstbehandlung und bei Bedarf Spurensicherung sind besonders wichtig, wie die Fallbeispiele der Betroffenen zeigen. Die umfassende gesundheitliche Versorgung nach erlebter Gewalt stellt die Grundvoraussetzung dafür dar, dass Betroffene gut gesunden können, und dass – bei Bedarf – gebotene rechtliche Schritte eingeleitet werden.
An vielen Orten fehlt es an wohnortsnahen Angeboten, die rund um die Uhr erreichbar sind. Zudem sind Personal und Krankenhausverwaltungen häufig nicht ausreichend auf Fälle sexualisierter und häuslicher Gewalt vorbereitet, da standardisierte Handlungsabläufe fehlen oder zu wenig bekannt sind. Wenn eine medizinische Versorgung und Spurensicherung nicht in einem Krankenhaus, also an einem Ort, verfügbar sind, wird oft eines der beiden nicht aufgesucht, da dafür die psychische Belastung der Betroffenen zu hoch ist. Deshalb fordert der bff, dass endlich die Bedürfnisse von Betroffenen geschlechtsspezifischer Gewalt in den Mittelpunkt gestellt werden, so wie es die Istanbul-Konvention verlangt.
Das Nebeneinander von medizinischer, rechtsmedizinischer und psychosozialer Versorgung ist zentrale Voraussetzung dafür, dass Betroffene sich für eine vertrauliche Spurensicherung und ggf. spätere Strafanzeige entscheiden können. Das heißt, es braucht eine Versorgungsstruktur, die ganzheitlich angelegt ist und somit all das umfasst. Der Zugang zu Versorgungsangeboten muss gut erreichbar, traumasensibel, barriere- und diskriminierungsfrei gestaltet sein.