Interview mit Rudaba Badakhshi, Regionalkoordinatorin Ost im Projekt „Gemeinsam MUTig“ bei DaMigra e.V.
„Wie können wir gewaltbetroffene Frauen in der informellen Arbeit und in prekären Beschäftigungsverhältnissen besser vor sexualisierter Gewalt schützen? Hier gibt es eine große Betroffenheit von Frauen mit Flucht- und Migrationserfahrungen. Das ist ein Thema, für das leider noch
nicht genug informiert und sensibilisiert wird.“
Rudaba Badakhshi ist hauptamtlich beim Dachverband der Migrantinnenorganisation (DaMigra e.V.), als Regionalkoordinatorin-Ost für das Projekt „Gemeinsam MUTig“ tätig. Nebenberuflich ist sie Moderatorin und arbeitet als Trainerin für inter- und transkulturelle Kommunikation. Sie ist außerdem Referentin, Dozentin und Lehrbeauftragte für die Bereiche Feminismus, Intersektionalität, Migration, Flucht, Asyl, Arbeitsmarkt und vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. Rudaba Badakhshi ist ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende des ZEOK e.V.
Rudaba Badakhshi, Sie sind Referentin im Projekt „Gemeinsam MUTig“ bei DaMigra e.V., dem Dachverband der Migrantinnenorganisationen. Können Sie kurz erläutern, welche Ziele das Projekt verfolgt und für welche Aufgaben Sie zuständig sind?
Rudaba Badakhshi: Als Dachverband DaMigra, und damit als Träger verschiedener Projekte, bearbeiten und bekämpfen wir Rassismus, Sexismus und soziale Ungleichheit. Wir setzen uns gegen jegliche Form der Diskriminierung von Menschen ein – sei es aufgrund der Herkunft, der (vermeintlich) religiösen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der Hautfarbe, sexueller Identitäten, Alter, Weltanschauung etc. Dabei berufen wir uns auf die europäischen, nationalen und internationalen Menschenrechtskonventionen, Gesetze und Schutzformeln juristischer Art. Wir arbeiten an der Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft, den sogenannten „migrantischen Communities“, und den politischen Entscheidungsträger*innen.
Im Projekt „Gemeinsam MUTig“ bin ich die Regionalkoordinatorin Ost. Bundesweit haben wir sieben Standorte. Das Projekt begleitet Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte dabei, ihre gesellschaftlichen Teilhabechancen konkret vor Ort (im Stadtteil, in der Stadt und in der Region) zu erhöhen. Wir arbeiten mit dem Empowerment-Ansatz. Dabei geht es darum, die vielfältigen Ressourcen von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte zu erkennen und zu stärken, um ihren Zugang zum Arbeits- und Bildungsmarkt zu verbessern. Wir führen dieses und weitere Projekte durch, weil wir sehen, dass Frauen mit Flucht- und Migrationsgeschichte täglich mehrfache Diskriminierungen erleben und vielfältigen strukturellen Zugangsbarrieren, beispielsweise am Arbeitsmarkt, ausgesetzt sind. Neben unserer Hauptzielgruppe wenden wir uns auch Arbeitgeber*innen oder Unternehmen vor Ort zu, um diese zu sensibilisieren, zu informieren und Begegnungs- und Dialogräume zu ermöglichen.
Wie definieren Sie die Begriffe „informelle Arbeit“ und „prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ – welche Merkmale zeichnen diese Begriffe aus? Was sind Unterschiede zwischen informeller Arbeit und prekären Beschäftigungsbedingungen?
Rudaba Badakhshi: Wir arbeiten seit zehn Jahren als DaMigra kontinuierlich in diesen Bereichen. Es geht uns dabei darum, sichtbar zu machen, wer, warum, wo und wie Zugang zum Arbeitsmarkt hat und unter welchen (oft diskriminierenden) Bedingungen Menschen arbeiten müssen, wenn sie keine Papiere haben und/oder prekär beschäftigt sind. Informelle Arbeit betrifft in besonderem Maße Menschen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, also entweder Menschen der EU-Staatsangehörigkeiten oder sogenannte Drittstaatsangehörige. Im Rahmen unseres Projekts ist es uns wichtig zu zeigen, welche Unterstützungsangebote es für Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte gibt, die informell arbeiten oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig sind.
Wir arbeiten in diesem Kontext auf unterschiedlichen Ebenen:
- Zum einen richtet sich unsere Arbeit direkt an die individuellen Arbeitnehmer*innen, also unsere Hauptzielgruppe: Frauen mit Flucht- und Migrationshintergrund. Wir informieren diese über ihre Rechte am Arbeitsplatz und bieten Unterstützung bei der Arbeits- und/oder Ausbildungssuche.
- Dann gibt es die Ebene der Arbeitgeber*innen und der Arbeitskontexte. Dazu gehört zum Beispiel die Sensibilisierung von Arbeitgeber*innen für ihre Schutzpflichten gegenüber Mitarbeitenden.
In informellen oder prekären Arbeitsverhältnissen werden gesetzliche Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer*innen sehr oft außer Kraft gesetzt. Undokumentiert arbeitende Menschen haben beispielsweise aufgrund ihres ungeklärten Status keinen Zugang zu Arbeitnehmer*innenrechten, weil sie keine Arbeitserlaubnis haben und damit de facto einem Arbeitsverbot ausgesetzt sind. Gleichzeitig ist es wichtig, zwischen den Begriffen informeller Arbeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen zu unterscheiden, auch wenn informelle Arbeit oft mit prekären Beschäftigungsbedingungen einhergeht.
Der informelle Bereich ist davon gekennzeichnet, dass Arbeitnehmer*innen keine festen Arbeitsverträge und damit keine rechtliche Absicherung am Arbeitsplatz haben. Das geht bei Verträgen los, die oft unter der Hand geregelt werden. Es gibt keinen rechtlichen Anspruch beispielsweise auf Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, Mutterschutz, keinen Urlaubsanspruch oder Zugang zu Fort- oder Weiterbildung. Ganz problematisch ist das Thema Bezahlung in der informellen Wirtschaft: Oft wird nicht mal der gesetzliche Mindestlohn gezahlt. Arbeitgeber*innen, die Menschen informell beschäftigen, umgehen die Einzahlung in die sozialen Sicherheitssysteme (Sozialversicherung, Unfallversicherungen, Rentenversicherung). Ein Kennzeichen informeller Arbeit ist zudem das Fehlen von gewerkschaftlicher Organisation. Menschen, die informell arbeiten sind oft massiv schlechten ökonomischen Verhältnissen, gesundheitlichen Benachteiligungen und fehlender sozialer Teilhabe ausgesetzt. Natürlich wirken sich diese Lebensbedingungen auch auf Wohnverhältnisse und -möglichkeiten aus. Auf der individuellen Ebene kann es für die Menschen oft soziale Isolation zur Folge haben. Viele empfinden Scham aufgrund ihrer Lebensverhältnisse und haben wegen des geringen und unsicheren Einkommens weniger Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Bei Migranten*innen kommt möglicherweise die besondere Vulnerabilität aufgrund der unsicheren Aufenthaltssituation hinzu, weil informelle Arbeit die einzige Einkommensquelle bietet und sie keine offizielle Arbeitserlaubnis haben. Für Frauen, die keine deutsche oder EU-Staatsangehörigkeit haben, ist die Situation besonders schwierig. Vor allem, wenn ihr Aufenthaltsstatus von ihrem Ehepartner abhängig ist. Das alles kann, muss aber nicht, Teil informeller Arbeitsverhältnisse sein. In welchen Bereichen informelle Arbeit stattfindet, ist regional sehr unterschiedlich. Ich arbeite in Leipzig. Aus meiner Perspektive der Ostbundesländer, sind es sehr oft kleine und mittelständische Unternehmen, die die Arbeitswelt vor Ort ausmachen. Natürlich sitzen hier auch Amazon, DHL, Porsche und weitere Großunternehmen, aber das sind nicht diejenigen Betriebe, die die Region „ernähren“.
Prekäre Arbeitsverhältnisse sind ebenso von gesellschaftlichem Ausschluss gekennzeichnet. Prekäre Beschäftigung existiert aktuell massiv auch in der sogenannten formellen Wirtschaft, also der Bereich, wo offizielle arbeitsrechtliche Bestimmungen gelten. Gleichzeitig sind prekäre Beschäftigungsbedingungen oft Teil der informellen Arbeit. Kennzeichnend für die prekären Beschäftigung ist eine sehr schlechte Bezahlung der Arbeit. Oft gibt es nur einen Anspruch auf wenige Arbeitsstunden und die Löhne sind zu gering für die pure Existenzsicherung. Die Arbeitsverhältnisse sind vielfach geprägt von fehlender sozialer Absicherung, diese sind oft kurz befristet und es gibt eine geringe Arbeitsplatzsicherheit und kaum Zukunftsaussichten. Menschen, die prekär beschäftigt sind, sind oft hohen physischen und psychischen Belastungen bei der Arbeit ausgesetzt. Viele Rechte, die vielleicht andere Beschäftigte – auch im selben Betrieb – haben, haben prekär Beschäftigte häufig nicht. Beispielsweise wird der Kündigungsschutz oft nicht vertraglich zugesichert. Hinzu kommt, dass die prekäre Beschäftigung in Deutschland geprägt ist von Frauen mit Migrations- und Fluchterfahrung. Das hat auch damit zu tun, dass die Kontinuitäten von Rassismus und Sexismus den Zugang zum Arbeitsmarkt massiv erschweren. Hierzu zählen Stereotypisierungen, die insbesondere rassifizierten Frauen bestimmte Berufe zuschreiben und gleichzeitig Arbeitsmöglichkeiten in anderen Bereichen verwehren. Nicht zuletzt folgt aus diesen Zuschreibungen dann auch die Rechtfertigung schlechterer Entlohnung: „Für diese Arbeit reicht doch das, was du verdienst“, heißt es dann etwa.
Welche Branchen sind typischerweise sehr stark von informeller Arbeit oder auch prekären Arbeitsbedingungen geprägt, auch im Hinblick auf geschlechtsspezifische Zuschreibungen?
Rudaba Badakhshi: Zur Beantwortung gehört auch der Blick darauf, welche Arbeit sichtbar ist und welche Formen der Arbeit oft gesellschaftlich nicht anerkannt werden. Die Arbeitsbedingungen in den sogenannten „systemrelevanten Berufen“ sind beispielsweise erst durch die Covid-Pandemie öffentlich sichtbarer geworden: Viele Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte waren als Arbeitnehmer*innen beispielsweise in Sorge- und Fürsorgebereichen der Pflegebranche oder im Dienstleistungsbereich an vorderster Stelle der systemrelevanten Tätigkeiten in dieser Krisenzeit. Diese Arbeitsfelder sind häufig gekennzeichnet von prekären Beschäftigungsverhältnissen – hier sind Migrant*innen vor allem tätig. Wir müssen in diesem Kontext selbstverständlich immer auch regionale Unterschiede der Rahmenbedingungen der Arbeitsplätze im systemrelevanten Bereich beachten. Ob Norden, Süden, Osten oder Westen, kleinere Orte, ländliche Region oder Großstadt – da sieht es nicht immer gleich aus, was die Arbeitsbedingungen betrifft.
Care-Arbeit, also die Sorge- und Fürsorgearbeit, zählt zu den Feldern, die, sowohl privat als auch öffentlich, oft nicht gesehen und somit nicht genügend gewürdigt und bezahlt wird. Stichwort Grenzregionen: Viele Menschen aus Polen, Tschechien oder angrenzenden Ländern arbeiten als 24-Stunden Kräfte im Pflegebereich, zum Teil leben sie auch als sogenannte „Live-Ins“ im Haus der zu pflegenden Person und haben dort weder Privatsphäre noch Rückzugsmöglichkeiten. Dabei werden sie oft aber nur für sieben Stunden bezahlt – wenn überhaupt. Dabei muss man sich diese Fragen stellen: Werden sie unter oder über dem Mindestlohn bezahlt? Sind sie rechtlich abgesichert? Wie ist ihre Anstellung geregelt? Sind sie vor Gewalt, Sexismus und Diskriminierung am Arbeitsplatz geschützt? Deutlich ist, dass diese Arbeiten überproportional von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte geleistet werden und sie weitestgehend unzureichend geschützt und vergütet werden. Viele Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte sind im Niedriglohnsektor beschäftigt. Dazu zählen vor allem Tätigkeiten im Reinigungsbereich, Arbeit in der frühkindlichen Erziehung, in Assistenzberufen, der Altenpflege, der Haushaltspflege und so weiter.
Das wichtige ist: Das Ganze kann ja nur passieren, weil eine Struktur und politische Akzeptanz dafür da sind. Wir sprechen von einem strukturellen Problem, von Diskriminierung und Ausschlüssen in unserer Gesellschaft, die schon längst Namen haben wie etwa „Gender Pay Gap“, „Gender Care Gap“ und „Migration Pay Gap“. Diese prekären Verhältnisse zu bekämpfen, für Sichtbarkeit und gute Entlohnung für Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte einzutreten – das ist u.a. ein Ziel unseres Projekts, des Verbandes.
In Deutschland ist prekäre Beschäftigung oft migrantisch und weiblich geprägt. Warum ist das so?
Rudaba Badakhshi: Das liegt an der Nichtanerkennung von beruflichen Kenntnissen, von Erwerbserfahrungen und vor allem den formellen Abschlüssen. Einer der großen strukturellen Hauptgründe für diese Situation sind viel zu lange Wartezeiten, um ausländische Abschlüsse voll anzuerkennen. Oft sind es Teilanerkennungen, die man zusätzlich ausgleichen muss – oftmals in nicht finanziell unterstützten Formen von Bildung, Weiterbildung, Abschlüssen, Ausbildungen etc. Diese langen Zeiträume korrelieren nicht immer mit der Perspektive der Frauen und mit ihren privaten Situationen. Häufig heißt es dann für sie neu anzufangen in einem neuen System des Lernens, Arbeitens, obwohl sie schon ein Studium oder jahrelange Arbeitserfahrungen haben. Dazu kommt, dass Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte oft Sexismus und Rassismus am Arbeitsplatz erfahren müssen und zudem unterschiedlichen Stereotypisierungen aufgrund religiöser oder kultureller Zuschreibungen ausgesetzt sind. All das sind Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt, die dazu führen, dass es sehr häufig Migrant*innen sind, die prekären Arbeitsbereiche prägen.
Oft werden prekäre Angestelltenverhältnisse als Einstiegsarbeits- oder Ankunftsarbeitsmöglichkeiten bezeichnet. Ist es wirklich realistisch, dass ein Karrierewechsel später stattfindet, sodass ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist?
Rudaba Badakhshi: Wir brauchen zunächst immer einen individuellen Blick auf die Lebensrealität der Frau: Welche spezifischen Rahmenbedingungen, formalen Voraussetzungen, Fertigkeiten und Motivationslagen bringt sie mit? Meine Beobachtung ist, dass Frauen oft eine hohe Motivation haben, große Ziele zu erreichen. Das eigentliche Hindernis liegt jedoch in der Struktur: Unabhängig von ihrer jeweiligen Motivationslage stoßen Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte auf viele rechtliche und strukturelle Hürden und Grenzen beim Karrierewechsel. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass es äußerst schwierig sein kann, die Bewerbungsphase zu überstehen: Formalisierte Assessment Center, langwierige und/oder schlecht bezahlte Traineeprogramme, Nachweise der Sprachkenntnisse, Bewerbungen ohne Anonymisierung und/oder Diskriminierung bei der Personalauswahl, die beispielsweise aufgrund von rassistischen Zuschreibungen auftreten können – all das kann den Zugang zu besser bezahlten Stellen verhindern. Diese Vielzahl an Faktoren kann eine Rolle spielen, warum Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte kaum Zugang zu beruflichem Aufstieg haben. Die spezifischen Erfahrungen von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte mit Sexismus am Arbeitsplatz dürfen auch nicht übersehen werden – oft begegnen sie intersektionalen Diskriminierungen am Arbeitsmarkt. Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz beeinflussen zweifelfrei Karrierewege von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte. Insgesamt gibt es nicht nur die altbekannte „gläserne Decke“, sondern zudem sehr viele Türen und Zugänge, die sich für einige Frauen öffnen – für viele aber nicht. Dazu zählen Codes, die in den Unternehmen vorherrschen, Unternehmenskulturen und Gepflogenheiten, notwendige Voraussetzungen für die Arbeit, Wissen um Zertifikate, Weiterbildungsmöglichkeiten und so weiter. Um all das zu kennen, braucht es ein soziales Umfeld, das dieses Wissen weitergibt. Und natürlich fehlt es an Vielfalt innerhalb von Teams in vielen Arbeitsbereichen. In den kommunalen Verwaltungen und Einrichtungen sind Frauen mit Migrationsgeschichte beispielsweise unterrepräsentiert. Ähnlich sieht es im Lehrer*innenberuf aus. Damit fehlen auch Vorbilder. Wenn ich jemanden sehe, der vielleicht einen ähnlichen Lebensweg hatte, ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht hat, kann das meine Berufsorientierung beeinflussen. Es gibt dadurch geschlossene Gesellschaften auf dem Arbeitsmarkt, in die viele Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte kaum hineinkommen.
Welche weiteren strukturellen Diskriminierungen sehen Sie, denen Frauen mit Flucht- und Migrationsgeschichte ausgesetzt sind, vor allem im informellen Sektor?
Rudaba Badakhshi: Ein sehr großer Faktor für strukturelle Diskriminierung ist der Aufenthaltsstatus der Frau. Ohne gültige Arbeitserlaubnis ist der Zugang zum formellen Arbeitsmarkt unmöglich. Dies spielt insbesondere dann eine Rolle, wenn die Frauen abhängig von einem Ehepartner sind oder der Wohnsitzauflage beziehungsweise Residenzpflicht unterliegen. In der informellen Arbeit gibt es für Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte oft keinen Zugang zu grundlegende Schutzmechanismen am Arbeitsplatz, wie etwa Kündigungsschutz, Gesundheitsschutz, oder auch Schutz vor Diskriminierungen. Oft erleben Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte unterschiedliche Formen von Sexismus oder sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz, ohne sich gegen diese rechtlich wehren zu können, insbesondere wenn sie informell beschäftigt sind. Beispielsweise durch fehlende Privatsphäre in Toiletten oder Umkleidekabinen, nicht genügend Ruhepausen oder fehlende Stillräume. Treffen mehrere Diskriminierungen gleichzeitig zusammen, können sie sich gegenseitig verstärken. Ein unsicherer Aufenthaltsstatus bringt oft Ängste mit sich: Perspektivlosigkeit, Abschiebeängste, die traumatisch und retraumatisierend sein können. Durch den fehlenden Zugang zum formellen Arbeitsmarkt kommt es oft zu Bedrohung durch Armut. Die Aufzählung könnte immer weiter fortgeführt werden.
Weshalb sind Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte einem erhöhten Risiko von sexueller Belästigung und Diskriminierung ausgesetzt?
Rudaba Badakhshi: Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte werden rechtspopulistischen, rechtsextremen und antifeministischen Haltungen und Taten tagtäglich ausgesetzt. Sexistische Diskriminierung und sexualisierte Gewalt und Belästigung treffen Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte besonders stark, insbesondere auch im Kontext von Arbeit oder Ausbildung. Sexuelle Grenzüberschreitungen und Übergriffe geschehen im Betrieb, in der Berufsschule, in der Ausbildung, in Fabrikhallen, Großunternehmen oder in kleineren Büros. Kein Ort der Arbeit ist davor geschützt. Was vielen Arbeitnehmer*innen nicht klar ist: Es gibt Gesetze, die Menschen am Arbeitsplatz vor Diskriminierung und Gewalt schützen. Ganz wichtig ist hier beispielsweise der Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Oft fehlt das Wissen über die eigenen Rechte bei Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte. Es gibt außerdem große rechtliche Schutzlücken: Bisher haben Menschen, die informell arbeiten, keinen Anspruch auf Schutz vor sexueller Belästigung im Kontext des AGG. Das ist fatal. Für die betroffene Migrant*innen kann das bedeuten, zusätzliche Belastungen und Benachteiligungen aushalten zu müssen. Dabei gibt es die Gesetzeslagen zum Schutz bestimmter Personengruppen genau deshalb, weil diese Diskriminierungen eine Realität in der Gesellschaft darstellen – und, weil die Gesetzgeber*innen damit historisch gewachsene Machtstrukturen und Ungleichheiten gesetzlich bekämpfen wollen.
Deshalb müssen wir mit Arbeitgeber*innen, natürlich aber auch Arbeitnehmer*innen selbst, über rechtliche Regelungen und Schutzlücken am Arbeitsplatz sprechen und den Rechtsschutz aller – unabhängig vom Vertragsstatus - verbessern. Wie können wir gewaltbetroffene Frauen in der informellen Arbeit und in prekären Beschäftigungsverhältnissen besser vor sexualisierter Gewalt schützen? Hier gibt es eine große Betroffenheit von Frauen mit Flucht- und Migrationserfahrungen. Das ist ein Thema, für das leider noch nicht genug informiert und sensibilisiert wird.
Mit Blick auf die Forschung und auf Statistiken: Wie wird das Thema aufgegriffen? Gibt es Lücken, die gefüllt werden müssen, um Betroffene besser zu unterstützen?
Rudaba Badakhshi: Es gibt zahlreiche Studien und Datenreports dazu. Ein Beispiel sind die jährlichen Reports, die von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), dem Statistischen Bundesamt (DeStatis), dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und dem Wirtschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) herausgegeben werden. Darin kann man sich die konkreten Zahlen anschauen und überprüfen, wie etwa die Prekarität verteilt ist bei Männern, bei Frauen, in welcher Region, bei welchen Berufen, in Teilzeit, in Vollzeit. Die Zahlen sind leider schon seit langem alarmierend. Zudem ist es aber wichtig, zwei Dinge mitzudenken: Das ist zum einen der Unterschied, etwas wirklich und statistisch zu erfassen. Das ist für unseren Kontext sehr entscheidend. Wenn Lebensrealitäten und Erfahrungen nicht gesehen und dementsprechend auch statistisch nicht erfasst werden, dann erscheinen sie auch nirgendwo: In keiner finanziellen Haushaltsplanung, in keinen gesetzlichen Reformbewegungen, in keinen Positionspapieren der Gewerkschaften und so weiter. Und somit wird sich auch in der Struktur- und in der Planungsebene nichts ändern. Die Forschung ist oftmals nicht partizipativ, die wissenschaftlichen Konzepte folgen oft Schemata, die nicht passgenau sind, die nicht die Realität des Stadtteils, der Projektbeteiligten und so weiter berücksichtigen – und die nicht zuletzt vielfach auf veralteten Theoriesystemen aufbauen. Davon ausgehend sind dann auch die Praxis-Empfehlungen der Studien nicht bedarfsorientiert. Oft gibt es in Regionen Vernetzungen, aber je ländlicher, je weniger gefördert, je weniger Projektträger*innen oder Initiativen es gibt, umso weniger Vernetzung gibt es.
Welche Hilfsangebote gibt es bisher bundesweit für Betroffene? Vor allem, wenn sie informell beschäftigt sind?
Rudaba Badakhshi: Zentrale Ansprechstellen sind die Antidiskriminierungsberatungsstellen und Frauenberatungsstellen bundesweit. Insgesamt fehlen aber Orte, die für Frauen mit Flucht- und Migrationserfahrungen gut erreichbar sind, barrierearme Angebote bieten und anonyme und mehrsprachige Beratungen ermöglichen. Oft wissen Betroffene nicht, wo es Hilfs- und Unterstützungsangebote gibt. Hier braucht es mehr mehrsprachig aufbereitete Informationen zu Schutzmöglichkeiten, zu Antidiskriminierungsberatungsstellen, die auch die besonderen Bedingungen von informeller Arbeit oder prekärer Beschäftigung berücksichtigen.
Spezifisch für den Kontext der informellen Arbeitsverhältnisse ist es wichtig, vertrauenswürdige Schutzräume zu schaffen, sowohl in Städten als auch in ländlichen Regionen. Damit ist nicht nur Schutz von körperlicher Unversehrtheit gemeint, sondern auch ein geschützter Rahmen, überhaupt über das Thema Gewalt und Betroffenheit von Diskriminierung zu reden, insbesondere wenn Menschen einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben. Die Lücken sind nicht nur rechtlicher Natur, sondern liegen auch in der Umsetzung von Unterstützungsangeboten. Das liegt auch daran, dass die vertrauensvollen Räume und Vernetzungen oft in Form von zeitlich begrenzten Projekten verfügbar sind. Landes- sowie kommunale Angebote sind insgesamt stark von klassischen Projekt-Dynamiken geprägt: Von einjährigen Förderzeiträumen, nach denen oftmals die Fachkräfte, in unserem Fall z.B. Vertrauenspersonen, in andere Stellen wechseln.
Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um die Situation von Menschen, die unter informellen und prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind, zu verbessern und sie besser vor sexueller Belästigung zu schützen? Worin bestünde hier die Rolle von Arbeitgeber*innen und staatlichen Institutionen?
Rudaba Badakhshi: Das Übereinkommen 190 der Internationalen Arbeitsorganisation, kurz ILO hat die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zum Ziel. Am 14.06.2023 ist die ILO Konvention 190 in Deutschland in Kraft getreten. Das Übereinkommen enthält eine breite Definition verbotener Verhaltensweisen am Arbeitsplatz, umfassende Geltungsbereiche. Hier sind beispielsweise auch Pausenräume, Dienstreisen, arbeitsbezogene Kommunikation mitgenannt. Neben Arbeitnehmer*innen, fordert die ILO auch Schutz vor sexueller Belästigung von Selbstständigen, Bewerber*innen, Personen in Ausbildung sowie Menschen in der informellen Wirtschaft. Zudem benennt die Konvention klare Arbeitgeber*innenverpflichtungen, wenn es um Prävention und Intervention sexueller Belästigung am Arbeitsplatz geht. Die Frage ist natürlich: Wie können diese Regelungen – wie kann grade der Schutz vor Gewalt im Kontext informeller Arbeit – praktisch durchgesetzt werden? Hier ist es zentral, die Situation von Frauen mit Flucht- und Migrationsgeschichte zu berücksichtigen, mit all den erwähnten Faktoren von Abhängigkeiten und Diskriminierungen, die ja immer intersektional zu betrachten sind. Die in der ILO geforderte Umsetzung von Schutz vor sexueller Belästigung über den formellen Arbeitsmarkt hinaus ist wünschenswert. Aber ich habe meine Zweifel, ob es mit dem Übereinkommen in der Praxis gelingt, dass Arbeitgeber*innen präventiv, aber auch nachhaltig und verpflichtend, den Schutz für Arbeitnehmer*innen vor allem in der informellen Wirtschaft zu realisieren werden. Wir haben sicherlich noch einen langen Weg vor uns und brauchen in jedem Fall mehr Vernetzung und Fachaustausch, beispielsweise zwischen Verbänden wie dem bff und DaMigra und anderen wichtigen politischen Akteur*innen aus dem Arbeitsfeld Gewalt- und Antidiskriminierungsarbeit.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.
Das Interview wurde von Ela Yıldız vom Projekt „make it work!“ durchgeführt.