Interview mit der Netzaktivistin Kübra Gümüşay zum Thema sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz.

Kübra Gümüşay ist eine intersektional arbeitende Aktivistin, Autorin und Journalistin. Sie schreibt, twittert und referiert  zu den Themen Internet, Feminismus, Rassismus, Islam und Politik. Sie ist Co-Gründerin von #SchauHin, gegen Alltagsrassismus, und Mitverfasserin des Hashtags #ausnahmslos, der sich gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus richtet. Ihr Buch „Sprache & Sein“ erscheint im Januar 2020 bei Hanser Berlin.

 

1. Liebe Frau Gümüşay, wie kommt es, dass das Thema Belästigung am Arbeitsplatz erst seit #MeToo so eine große Öffentlichkeit bekommt?

Um zu verstehen, warum sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz  erst seit #MeToo medial deutlich erhöhte Aufmerksamkeit erhält, ist es sinnvoll sich die historische Entwicklung des Begriffs genauer anzusehen: In den 60er Jahren war der Begriff „sexual harassment“ und seine Bedeutung in den USA beispielsweise noch nicht weit verbreitet. Die Wissenschaftlerin Miranda Fricker hat diesen Umstand als „linguistische Lücke“ beschrieben. Dabei erklärt sie dieses Phänomen folgendermaßen: Wenn an einem Arbeitsplatz eine Frau sexuell belästigt wird, ist sie durch die „linguistische Lücke“ die besteht, nicht in der Lage, ihre Gewalterfahrung sichtbar zu machen, da sie keine Worte für das hat was ihr passiert. Im Fall von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz hat das zur Folge, dass sie sich als Betroffene zukünftig kaum bis gar nicht gegen grenzüberschreitendes und gewaltvolles Verhalten in ihrem Arbeitsumfeld schützen kann. Sie bleibt sprachlos. Das Interessante ist, dass sich der*die Täter*in, in Frickers Fallbeispiel der Vorgesetzte, gleichzeitig keiner Schuld bewusst ist: Er sieht kein Problem in seinem Verhalten, weil die Übergriffigkeit seiner Handlungen schon rein sprachlich nicht greifbar ist.  Erst als der Begriff sexuelle Belästigung und seine Bedeutung, im Rahmen feministischer Protestbewegungen Anfang der 70er Jahre, Verbreitung gefunden haben, wurde es überhaupt erst möglich die alltäglichen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen Betroffener am Arbeitsplatz sichtbar zu machen.

Frickers Beitrag macht sehr deutlich wie wichtig es ist, gesellschaftliche Missstände, wie sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, historisch und sprachlich zu betrachten. Sie zeigt, inwiefern wir diese Missstände zum Ausgangspunkt machtkritischer Diskurse machen können. Diese Diskurse sind Instrumente um gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, da sie den Erfahrungen von Betroffenen eine Sprache geben und dadurch erst ein Bewusstsein über die Gewaltsamkeit sexueller Grenzüberschreitungen Arbeitsplatz ermöglichen. Es ist also wichtig, dem Problem einen Namen zu geben, um die Sensibilisierung und Aufmerksamkeit zu erhöhen.

 

2. Warum sind Bewegungen wie  #MeToo und  #aufschrei  und die damit verbundene Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Ihrer Meinung nach wichtig und sinnvoll?

Ich halte Diskurse wie #MeToo oder #aufschrei für unglaublich wichtig. Durch die Hashtags startete vor über sechs Jahren der Diskurs, der vor allem Betroffene stärkt und ihnen deutlich gemacht hat, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind. #MeToo baut auf die Arbeit unzähliger Aktivist*innen weltweit auf, die seit Jahrzehnten zu diesen Themen arbeiten und hat durch die effektive Nutzung digitaler Technologien dabei geholfen, einer breiteren Öffentlichkeit von Nichtbetroffenen bewusst zu machen, dass es sich bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz nicht um ein Rand- oder Inselphänomen handelt, das vereinzelt vorkommt. #MeToo hat damit auf internationaler und branchenübergreifender Ebene gezeigt, dass Sexismus in der Arbeitswelt ganz klar eine strukturelle Dimension hat und es daher nötig ist, Arbeitsstrukturen kritisch zu hinterfragen und zu verändern.

Die Diskurse um #MeToo und #aufschrei sind wichtig und wertvoll, um eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung zu ermöglichen. Zu dieser Sensibilisierung gehört meiner Meinung nach auch, dass die unterschiedlichen Erfahrungen Betroffener sichtbar gemacht werden und weniger privilegierte Stimmen in den Debatten um die Entwicklung einer gewaltfreieren Arbeitskultur hörbarer werden. Betroffene sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, die Mehrfachdiskriminierung erfahren, weil sie beispielsweise Frauen sind und Schwarz sind, weil sie der LSBT*I*Q-Community angehören, weil sie eine Behinderung haben  oder ein Kopftuch tragen, erleben sexuelle Belästigung immer gleichzeitig und in Überschneidung mit weiteren, multiplen Diskriminierungsformen. Mehrfachdiskriminierte Betroffene sexueller Belästigung, erleben Gewalt am Arbeitsplatz anders und verstärkt, gleichzeitig bleiben sie in Diskursen zum Thema häufig unerwähnt und damit unsichtbar.

Sexuelle Belästigung hat mit Macht zu tun. Eine Person mit Behinderungen erlebt andere – oft sehr gewaltsame – Formen sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz. Das Erfahrungsspektrum von Schwarzen, kopftuchtragenden Frauen ist wiederum anders, denn die Sexualisierung und Exotisierung Schwarzer Frauen hat leider Tradition, diese Geschichte spielt im Rahmen der Diskriminierungserfahrungen immer noch eine zentrale Rolle. Bei kopftuchtragenden Frauen kommt hinzu, dass ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt insbesondere in qualifizierten Positionen, aber auch insgesamt, zunehmend erschwert und behindert wird. Wie abhängig sind sie damit von ihrem Arbeitsplatz, weil sie sonst kaum Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt haben? Prekarität ist ein wichtiges Thema, wenn es um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geht. Welche ökonomischen Hintergründe haben Betroffene? Wie sehr wird ihre Abhängigkeit ausgenutzt?

3. Was denken Sie, wie können Betroffene nach Vorfällen besser unterstützt werden?

Diese Frage lässt sich wieder nur mit Blick auf die sehr unterschiedlichen Erfahrungswelten und Bedarfe Betroffener beantworten. Dabei sollte vor allem nicht vergessen werden, dass finanzielle Abhängigkeiten eine große Rolle spielen. Eine Frau, die alleinerziehend ist, an der Armutsgrenze lebt und kaum Absicherungen hat, braucht eine andere Unterstützung als eine in der Hinsicht privilegiertere Frau. Wie können prekär Beschäftigte – auch mit Blick auf die Bedrohung ihrer finanziellen Existenz - geschützt werden, wenn sie sich wehren und vom AGG Gebrauch machen? Es reicht nicht zu sagen: „Sie bekommen rechtlichen Beistand“, oder „Sie haben recht.“ Es müssen Bedingungen geschaffen werden, diese Betroffenen auch finanziell zu unterstützen wenn sie sich gegen Belästigung wehren. Finden sie Unterstützung, Entlastung und Hilfe beim Finden einer anderen Anstellung?

Wenn wir über Unterstützungsangebote für Betroffene nachdenken, müssen wir die Erfahrungen mehrfachdiskriminierter Menschen ins Zentrum stellen. Wenn wir nur – wie es der dominante Diskurs macht – von finanziell unabhängigen, weißen CIS-Frauen ausgehen, die in einer heterosexuellen Partnerschaft leben, werden wir keine nachhaltigen Lösungen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz finden. Denn  mehrfachdiskriminierte Betroffene zeigen strukturelle Lücken, Missstände und blinde Flecken auf, für die es zum jetzigen Moment womöglich noch keine Sensibilisierung gibt und bekämpft werden können, bevor es zu „spät“ ist. Für die Zukunft brauchen wir deshalb einen Diskurs, der die Erfahrungen mehrfachdiskriminierter Betroffener ins Zentrum stellt, damit auch die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft vom Wandel der Arbeitskultur profitieren - und die Nachhaltigkeit dieses Wandels sicherer wird.

4. Was kann „make it work!“ Ihrer Meinung nach bewirken, um Betroffene langfristig zu stärken?  Wo sehen Sie Parallelen der Kampagne zu Ihrem netzpolitischen Aktivismus?

„make it work!“ ist ein wichtiges Projekt, denn es trägt dazu bei, dass nachhaltige Lösungen zum Schutz Betroffener gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz entwickelt werden und dieser Missstand in unserer Arbeitskultur problematisiert und strukturell angegangen wird.

Dabei sehe ich viele Parallelen zu unserer Kampagne #schauhin zum Thema Alltagsrassismus.  Bei vielen Betroffenen, die anfangs geäußert haben, dass sie nie Alltagsrassismus erlebt haben, fand durch die Kampagne ein Bewusstseinswandel statt. Durch die vielen Beiträge und Berichte der Community, die im Rahmen von #schauhin geteilt wurden, haben Betroffene eigene Erfahrungen wiedererkannt und begriffen, dass sie jahrelang rassistische Sprüche und Übergriffe normalisiert haben. Die Kampagne hat zu einer Sensibilisierung beigetragen und Betroffene gestärkt das eigene Empfinden wahrzunehmen und die selbst erlebte Ungerechtigkeit nicht mehr aushalten zu müssen. Ebenso wie bei #schauhin, ermöglicht „make it work!“ als Kampagne, dass ein langfristiger Bewusstseinswandel über die Alltäglichkeit von Diskriminierung passiert und Betroffene schlussendlich dabei gestärkt werden sich gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz zu wehren.

5. Was wünschen Sie sich vom „make it work!“-Bündnis?

„Von der „make it work!“-Bündnisarbeit erhoffe ich mir, dass sich Arbeitgeber*innen ihrer Verantwortung bewusster werden und ihrer Schutzpflicht aktiv nachkommen. Wenn sich Betroffene sexueller Belästigung am Arbeitsplatz nicht trauen, diese anzusprechen, sich zu wehren, dann ist dies auch ein Versagen der Unternehmensführung. Arbeitgeber*innen müssen eine Arbeits- und Unternehmenskultur fördern und gestalten, in der Mitarbeitende sich geschützt fühlen und wissen dass sie im Fall eines Vorfalls unterstützt werden. Es gibt ein paar wenige Beispiele, die zeigen, dass Führungskräfte durchaus gut mit Vorfällen umgehen können und sich ehrlich mit der Frage befassen wie sie Betroffene besser unterstützen können, was ihre Verantwortung ist und welche Gründe es dafür gibt dass Betroffene Vorfälle nicht melden. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern Arbeitsstrukturen und das Betriebsklima Betroffene entmutigen Unterstützung bei Personalverantwortlichen zu suchen und sich zu beschweren.

Eine weitere Hoffnung ist, dass im Rahmen der Kampagnen- und Bündnisarbeit diejenigen Betroffenen sichtbarer werden, die mehrfachdiskriminiert sind. Dafür brauchen wir Materialien und Handlungsstrategien, die weniger-privilegierte Lebensrealitäten berücksichtigen.

Ich wünsche mir eine starke Kampagne, die Sensibilisierung in den Mittelpunkt stellt, die die breite Öffentlichkeit aufklärt und deutlich macht, dass Belästigung nicht länger geduldet wird, dass Betroffene keine Verantwortung für Belästigungssituationen tragen und Unterstützung erhalten können.

6. Wie geht es jetzt weiter? Folgt auf #MeToo, #Timesup und wie denken Sie entwickelt sich der Diskurs weiter? Was sollte angegangen werden, damit Betroffene nachhaltig besser geschützt sind?

Eins ist klar: Der Backlash wird stärker, der Ton rauer. #MeToo und #aufschrei haben die Missstände in unserer Arbeitskultur sichtbar und damit greifbar gemacht. Das ist das Fundament zur Lösung dieser Probleme. Der starke Backlash dagegen zeigt wie kraftvoll diese Bewegung ist - doch wir dürfen nicht den Fehler machen, uns am Backlash abzuarbeiten. Die wichtige Frage ist daher: Was sind unsere Ziele, was wollen wir erreichen? Der Bewusstseinswandel ist schon in vollem Gange, es ist mittlerweile auch Nicht-Betroffenen klarer wie verbreitet sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist. Wir sind also an einem guten Punkt, um Veränderungen durchzuführen. Nachhaltigkeit zu schaffen heißt daher:  Wir müssen in unseren feministischen Bündnissen die Diskussion gegen Belästigung am Arbeitsplatz konstruktiv voranbringen, intersektional arbeiten und selbst die Themen setzen, um Betroffene nachhaltig zu stärken.

Dankeschön für Ihre Zeit und Ihre Expertise!

Das Interview führte Larissa Hassoun makeitwork@bv-bff.de vom bff Projekt „make it work! Für einen Arbeitsplatz ohne sexuelle Belästigung, Diskriminierung und Gewalt“