Sicheres Online-Daten in Zeiten der Pandemie

Sandra Boger aus dem Projekt aktiv gegen digitale Gewalt hat ein Interview mit Heike Barnes der Beratungsstelle Frauennotruf München zum Thema Online-Dating in Zeiten der Pandemie geführt.

Heike Barnes ist Beraterin in der Beratungsstelle Frauennotruf München, und auch ihr Beratungsalltag hat sich durch die Pandemie in vielen Punkten verändert. Die Berater*innen mussten sich überlegen, wie sie ihre bisherigen Unterstützungsangebote weiter aufrechterhalten können, ohne die eigene Gesundheit oder die ihrer Klient*innen zu gefährden. So bieten sie zum Beispiel seit der Pandemie bisherige Angebote der Beratungsstelle wie Yoga, Trauma zentrierte Beratung oder auch WenDo-Kurse online an. Die Berater*innen mussten kreativ und professionell mit der pandemiebedingten Verschiebung bzw. Verschärfung bisheriger Beratungsschwerpunkte umgehen. Von einem dieser neuen Schwerpunkte – dem Online-Dating – und den damit zusammenhängenden Herausforderungen für den Frauennotruf berichtet uns Heike in diesem Interview. Sie erzählt uns am Telefon, dass ihr die Sensibilisierung für dieses Thema sehr am Herzen liegt. Sie freut sich, dass der bff seine Reichweite nutzt, um das Thema bundesweit bekannt zu machen. So wird es für Menschen, die im Zusammenhang mit Online-Dating geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben, leichter oder manchmal überhaupt erst vorstellbar, sich Unterstützung zu holen.  

1. Wie ist bei euch aktuell die Situation bezogen auf Anfragen zum Thema Online-Dating?

Ende letztens Jahres gab es vermehrt Anfragen. Eine Kollegin hatte drei Beratungsanfragen in kurzer Zeit. Die Problematik ist: Durch den zu dieser Zeit harten Lockdown gab es einen Mangel an öffentlichen Räumen. Dadurch fanden erste Dates oftmals im privaten Raum statt. Viele Datende waren darauf nicht vorbereitet. Im Vorfeld wurde wenig getan um sich für einen ersten persönlichen Kontakt abzusichern. Beim ersten Treffen oder auch bei Sexdates kam es hier vermehrt zu sexuellen Belästigungen bis hin zu Vergewaltigung.

Aber nicht nur bei ersten Treffen im Zuge von Online-Dating kam es zu Übergriffen: Es wurde auch eine Situation während des Lockdowns beschrieben, bei der es zu sexueller Nötigung kam, nachdem bereits erste Treffen im Freien, außerhalb der eigenen Wohnung stattgefunden hatten. Bei dem Beratungsgespräch ging es um die Einordnung der Situation und um die Frage, warum sich die betroffene Frau hat täuschen lassen und den Übergriff nicht stoppen konnte. Diese Frau war etwas älter.

Meist melden sich zu dem Thema Online-Dating eher jüngere Frauen, 20- bis 30-jährige. Und auch fanden die berichteten Übergriffe in der Regel eher beim ersten Date statt.

Das ganze Thema hat sich durch den Lockdown verschärft, da sich Menschen eher direkt in privaten Räumen treffen. Strategien, die wir früher empfohlen haben, wie z.B. sich erstmal in der Öffentlichkeit zu treffen, funktionieren nicht mehr. Mangelnde Möglichkeiten für persönlichen Austausch und Nähe macht Menschen anscheinen oft risikobereiter. Gerade jüngere Menschen haben ein großes Bedürfnis nach sozialem Kontakt und körperlicher Nähe. Auf der anderen Seite gibt es während des Lockdowns kaum Gelegenheiten andere Menschen kennenzulernen. Alltagssituationen, in denen anbandeln sonst stattfindet, fallen in diesen Zeiten größtenteils weg.

2. Wie reagiert ihr auf solche Anfragen? Habt ihr vielleicht Tipps, zum Beispiel für Betroffene oder andere Beratungsstellen?

Am Anfang haben wir Beratung gemacht wie immer. Selbstfürsorge betreiben und Scham und Schuldgefühle reflektieren. Wer ist die angreifende Person, wer ist die betroffene? Es geht immer auch darum, diese Gefühle der Person zuzuordnen und zurückzugeben, die Gewalt ausgeübt hat. Denn die Schuld kann nie bei der von Gewalt Betroffenen liegen. Dann geht es auch häufig um eine Rechtsberatung und mögliche Schritte einer Anzeige. In dieser Hinsicht ist es ähnlich wie in anderen Beratungen nach sexualisierten Übergriffen.

Dann haben wir gemerkt: Vielleicht brauchen wir eine neue Strategie, konkret bezogen auf Prävention und Intervention bei Übergriffen im Rahmen von Online-Dating. Da braucht es nochmal andere Ansätze. Auch bei Übergriffen in Verbindung mit K.O.-Tropfen sagen wir ja nicht, du solltest nicht in eine Bar gehen. Beim ersten Date in einer fremden Wohnung kann auch einiges passieren. Es geht dann darum: Wie kann ich im Vorfeld gut für meine Sicherheit sorgen? Und wie kann ich dort die Kontrolle behalten, wenn es zu einer ungewollten Situation kommt, wenn sich ein Übergriff anbahnt?

Es wird viel nach Rat und konkreten Handlungsempfehlungen gefragt. Was wir wichtig finden:

  • Ein erster Rat wäre: Am besten erste Dates nach Möglichkeit im öffentlichen Raum, nicht in privaten Räumen. Aber dazu sind viele halt gerade durch die pandemiebedingten Umstände bereit.
  • Auch vom Wendo nehmen wir Anregungen. Zum Beispiel sich stärken. Eine*n Verbündete*n haben, ein Codewort per SMS oder eine Kurzwahltaste einrichten. Jemand, der schnell vor Ort sein kann. Jedenfalls sollte eine vertraute Person in die Planung des Treffens mit einbezogen werden.
  • Übergriffige Situationen bauen sich meist schrittweise auf: Achtsamkeit ist gut, um dies zu bemerken. Wo hätte ich noch „Nein“ sagen können? Wie kann ich die Stufen merken, wo noch ein „Nein“ möglich ist? „Wenn Sie merken, der rückt mir auf die Pelle“, auf dieser Stufe „Nein“ sagen. Dort bleiben viele stumm. Was waren die Stufen, wie war die Wahrnehmung der betroffenen Person? Was braucht sie, um „Nein“ sagen zu können und die Situation zu verlassen?
  • Wohlfühlskalen können auch ein hilfreiches Tool sein. Immer wieder gucken: „Wo bin ich gerade auf der Skala und was kann ich da noch tun?“
  • Achtsamer Rückblick: Was könnte ich beim nächsten Mal in bestimmten Situationen tun? In der Beratung geht es darum, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Raus aus der Ohnmacht!
  • Verbündete sind sehr wichtig, um auch die Scham- und Schuldfrage an den*die Täter*in zurück zu geben und die Erfahrungen zu teilen.

Wir haben die Erfahrung gemacht: Es ist hilfreich, dass Datende eine innere Klarheit haben, wenn sie sich auf solche Situationen einlassen. Es ist wichtig, dass sie wissen, was sie wollen. Sie brauchen das Selbstbewusstsein, um ihnen unangenehme Situationen zu stoppen oder ihre*n Freund*in zu kontaktieren.

3. Wo siehst du besonderen Handlungsbedarf?

Es braucht mehr öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema, um auf Rechte und Fallstricke hinzuweisen.

Großer Handlungsbedarf besteht bei den Plattformen: Es ist anzunehmen, dass die Plattformen von Wiederholungstäter*innen missbraucht werden, das geht so nicht. Rechtlich ist es da total schwierig. Die Beweislast liegt bei den Betroffenen. Außerdem werden „diskreditierende“ Kommentare von Betroffenen oftmals gelöscht. Auf Plattformen zuzugehen, damit haben wir als Berater*innen keine Erfahrungen. Theoretisch gibt es auch die Möglichkeit, zu versuchen, Täter*innenprofile zu löschen oder zu sperren. Da kennen wir uns auch nicht gut mit aus. Es braucht eine rechtliche Handhabe, um auf den Plattformen etwas zu verändern. Dabei spielt natürlich auch die Frage eine Rolle, was online und was offline passiert ist.

Eine wichtige Frage ist: Welche Möglichkeiten gibt es, Täter*innen zu melden? Vielleicht wäre ein anonymes Meldesystem bei der Plattform sinnvoll. Merken sich die Plattformen Beschwerden oder, anders gefragt, werden Beschwerden gesammelt und könnten diese einem Benutzer*innenprofil zugeordnet werden? Das würde ermöglichen bei vermehrten Anfragen oder Beschwerden prompt zu reagieren. Natürlich können diese Instrumente auch missbraucht werden, es hat sich aber gezeigt, dass solche „Falschmeldungen“ nur eine verschwindend geringe Anzahl ausmachen.

Es könnte in Zukunft ein Kriterium für Menschen beim Online-Daten sein, ob Plattformen ein gut funktionierendes Beschwerdesystem haben. Vielleicht könnte man sogar eine Umfrage unter Nutzer*innen machen, wie eine Beschwerdestelle oder Meldestelle ihr Nutzer*innenverhalten verändern würde. Interessant wäre im Rahmen dieser Umfrage auch zu fragen, wie die Nutzer*innen mehr Sicherheit beim ersten Date bekommen können.

Es ist wichtig, dass auf der Plattform Unterstützungsangebote sichtbar sind. Deutschlandweit könnte zum Beispiel die Nummer vom Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ drinstehen.

4. Wo sollten wir strukturell oder politisch Hebel ansetzen, um dem Problem entgegen zu wirken?

Wichtig ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, der Betroffenen, der Plattformen usw. Öffentlichkeitsarbeit kann hilfreich sein. Eine Botschaft könnte sein: „Wenn ich ein Tinderdate habe, möchte ich nicht Gefahr laufen vergewaltigt zu werden.“ „Ein erstes Date ist kein Freifahrtsschein für einen Rape.“ Eine andere Möglichkeit von Öffentlichkeitsarbeit sind aufklärende Kampagnen, wie die Männerkampagne aus Schleswig-Holstein für Respekt und Unterlassung der Machtausnutzung.

Die Frage ist auch, ob es nicht neben rechtlichen Schritten noch andere Mittel gibt, gegen Täter*innen vorzugehen. Auch das Hilfetelefon erfasst statistische Daten über Anrufe zu sexueller Gewalt. Gibt es hier auch Informationen ob die Übergriffe in Zusammenhang mit Online-Dating stehen und evtl. mit welchen Plattformen? Wo laufen die Informationen zusammen? Gibt es eine zentrale Stelle beim z.B. beim Hilfetelefon, die Daten ohne Anzeige erfasst? Die Daten zu Übergriffen sind wichtig, aber schwierig zu sammeln, weil die Namen von Täter*innen nicht genannt werden dürfen. Plattformen und Regionen könnten jedoch erfasst werden. So ließen sich eventuelle Cluster und Muster erkennen. Mit dieser Auswertung könnten wir Druck auf die Plattformen ausüben. Je mehr Fälle sichtbar werden würden, desto größer würde das Imageproblem der betreffenden Plattform und ihr Handlungsdruck werden. Wenn es da Zahlen gäbe, könnten wir außerdem auch politisch besser argumentieren. Vielleicht sind die Plattformen auch über Gesetze dazu zu bringen, etwas zu verändern. Außerdem fehlt es den Beratungsstellen und Notrufen nach wie vor an finanziellen Mitteln, wobei politische Argumente ebenfalls hilfreich wären. Der bff kann das alles vielleicht nicht ständig leisten, aber die Forderung nach einer aktuellen Studie und Statistiken wäre sicher sinnvoll.

Dass soziale Netzwerke nur aufgrund von Anzeigen reagieren, ist schade. Wirksame Beschwerdestellen und Maßnahmen von den Plattformen sind erforderlich. Auch ein Hinweis aufs Hilfesystem, wie zum Beispiel den bff und das Hilfetelefon, darf, wie bereits gesagt, auf den Plattformen nicht fehlen. Vielleicht braucht es aber auch eine externe, anonyme Meldestelle, wo Betroffene Übergriffe oder digitale Beleidigungen/Belästigungen im Zusammenhang mit Online-Dating plattformunabhängig melden können. Wir als Frauennotruf würden das auf unserer Homepage auch gerne mitbewerben.

Auch beim Online-Dating gelten die gleichen Maximen wie sonst in der Arbeit gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Wie bei ‚Codewort Luisa‘ im Kontext von K.O.-Tropfen wiederholt sich das Problem, dass sich nicht nur um Betroffene gekümmert werden darf, sondern dass Täter*innen konfrontiert werden müssen. Ich denke da auch an das Gewaltschutzgesetz. Der*die Täter*in muss gehen – nicht nur in der eigenen Wohnung, sondern auch in der Öffentlichkeit und im Netz. Das sollte auch online gelten. Gewaltschutzgesetz bitte überall umsetzen!

Im Gespräch mit einer Anwältin habe ich auch nochmal über den Begriff digitale Gewalt gesprochen und inwiefern er hier passt. Speziell bei Dates, die digital vermittelt wurden, findet die Gewalt dann aber nicht im Digitalen Raum statt. Die begriffliche Einordnung dieses Themas könnte in diesem Zusammenhang auch nochmal interessant sein. Es wird überhaupt spannend, wie sich dieser Beratungsschwerpunkt in den nächsten Monaten mit dem Verlauf der Pandemie entwickelt. Aber das Thema ist generell wichtig und bleibt bestehen.

Hier ist das vollständige Interview mit Heike Barnes

Hier ist eine gekürzte Version des Interviews mit Heike Barnes